Albert Moeschinger zur Erinnerung

von Peter Mieg, Komponist und Publizist

Moeschinger, der eigenwillige Komponist, wurde im Kreis seiner Freunde und Bekannten «Moe» genannt. «Wie geht es Moe, was tut Moe?» so konnte man hören - sei es in Bern, in Basel oder Zürich, auch im Tessin, in Thun, den Stationen seines Lebens. Eines Lebens in Einsamkeit. Der Herbst des Einsamen, der Titel zu zwölf Gesängen für Frauenchor auf Gedichte von Georg Trakl, mag symptomatisch scheinen für dies Dasein des Einsiedlers, der indessen menschlichen Kontakten durchaus nicht verschlossen war. Im Grunde hatte er viele Freunde, viele, die sich für das Schaffen dieses nur der Musik, ganz ausschließlich der Musik lebenden Menschen interessierten, sich auch für ihn tätig einsetzten. Und er brauchte Hilfe. Wie soll ein Mensch auch leben, wenn er nur komponiert?! Leben kann er nur, wenn er eine Oper schreibt, die an vielen Opernhäusern gegeben wird.

Moeschinger hat keine Oper geschrieben, doch viele sinfonische Musik, Ballette, Vokales, Kammermusik. Und das meiste hat er auf Auftrag geschrieben. Er lebte also von Aufträgen. Freilich hatte er zu Beginn seiner Komponistenlaufbahn als Lehrer gewirkt, nachdem er seine Ausbildung in Bern, Leipzig und München abgeschlossen hatte. In Bern war er ab 1917 als Lehrer für Klavier und die theoretischen Fächer tätig, von 1937 bis 1943 am dortigen Konservatorium. Die Verbindung mit musizierenden Menschen war anregend für ihn. Die enge Bindung an einen Konservatoriumsbetrieb schien ihm indessen auf die Dauer hindernd. So zog er ins einsamste Bergtal, nach Saas Fee. Lange Jahre brachte er dort zu, stetig komponierend und sich mit den Strömungen und Möglichkeiten Neuer Musik und ihrer Ausdrucksmittel auseinandersetzend. Von Saas Fee gelangte er nach Ascona, wo ein fast turbulentes Leben um ihn herrschte. Und in den späten Jahren kam er nach Thun.

Mit Basel, der Vaterstadt, hatte er nochmals einen Versuch gemacht, der jedoch scheiterte. Es kamen Alter und Krankheiten, es kam die letzte Einsamkeit, die er durch erneute Arbeiten zu erleichtern suchte. Ein Augenleiden erschwerte gerade diese Arbeit, und nur dosiert konnte er ihr nachgehen. Dabei war Moeschinger ein ausgesprochener Schönschreiber. Seine Notenblätter waren wunderbar geschrieben, von einer makellosen Deutlichkeit bei allem persönlichen Duktus der Schrift. Er empfand geradezu Lust, aus den Partituren die Orchesterstimmen selber herauszuschreiben, und auch diese Orchesterstimmen waren von beispielhafter Klarheit. Eine Sache, die für die meisten Komponisten eine Fron bedeutet, war ihm ein Vergnügen. Wie sehr er darunter litt, gerade auf dies Vergnügen verzichten zu müssen wegen der leidenden Augen, kann man nur erahnen. Moe trug seit früher Jugend Gläser, zuerst einen Zwicker, später eine Brille. Eher klein von Statur, eher zum Pyknischen neigend, hatte er von Basel her seinen Basler Witz, seinen geschulten und geschliffenen Geist, die hohe Fähigkeit, sich schriftlich höchst prägnant auszudrücken. Ja, gerade im Sprachlichen war er sehr kritisch und ruhte nicht, bis sein Ausdruck aufs genaueste dem entsprach, was er sich vorstellte. Er war auch kritisch gegenüber den schriftlichen Äußerungen anderer. Das habe ich erfahren, als ich einmal eine Einführung zu einem seiner Werke zu schreiben hatte. Im Verkehr konziliant und aufgeschlossen, setzte er sich in seiner gescheiten Art für das ein, was ihm als geistig wertvoll erschien.

Frühe Begegnungen in Bern bildeten den Beginn meiner persönlichen Kontakte. Sie waren örtlich auf das Studio von Hermann Gattiker fixiert, einen Erdgeschossraum in der Altstadt. Zwei Flügel standen im Studio, das bei den legendär gewordenen Hauskonzerten zum Saal erweitert wurde, in dem sich alle Berner Musikfreunde, die sich für Neue Musik interessierten, einfanden. Stühle gab es längst nicht genug, man setzte sich auf die Fensterbänke, auf den Boden, auf die Badewanne. Magdi Rufer, die junge Berner Pianistin, spielte damals ein Stück für zwei Klaviere von Moe, ein zwingendes Werk voll Vehemenz, voller Einfälle, die alle gebändigt schienen. Magdi war durch Jahre die verbindende Persönlichkeit; sie wußte immer um Leben und Wirken von Moe, bis zu der Zeit, da sie die Schweiz verließ und nach Istanbul zog, wo sie nun seit dreissig Jahren tätig ist. In Basel lernte ich bei den Konzerten des Basler Kammerorchesters unter Paul Sacher das Violinkonzert kennen. Dieses Violinkonzert, noch durchaus tonal, bestach durch die souveräne Art, wie das Soloinstrument dem Orchester gegenübergestellt war, wie solistisches Geschehen mit orchestralen Entwicklungen zu oft sinfonischer Fülle verbunden wurde.

Zwei Klavierkonzerte waren diesem Violinkonzert vorangegangen, drei weitere Klavierkonzerte sollten noch folgen, zum Teil mit großem, zum Teil mit Kammerorchester. Die Reihe der konzertanten Werke setzte sich fort mit dem geistvollen Trompetenkonzert, dem Concerto Iyrique für Saxophon und Kammerorchester, der Fantasie concertante für Flöte, Klarinette, Fagott und Orchester, der Toccata cromatica für Klavier, Holz- und Blechbläser und Schlagzeug, den Caprisei für Fagott und kleines Orchester, endlich dem Concerto da camera für Cembalo und kleines Orchester. Mit jedem dieser konzertanten Stücke bot Moeschinger einen Beweis seiner Könnerschaft, die darin bestand, daß er sich mit den Möglichkeiten der verschiedenen Instrumente beschäftigt hatte, ihre Eigenart zur Geltung zu bringen und dem orchestralen Fluß zu integrieren wußte. Dabei markierte jedes dieser Werke einen bestimmten Punkt im Verlauf seiner Entwicklung, die von der Tonalität zur Dodekaphonik führte.

Meine Begegnungen mit Moeschinger angehend, trat der Brief sehr bald an die Stelle des Gesprächs. Seine Briefe zählen zu den persönlichsten und interessantesten, die ich von Musikern aufbewahre. Moe war ein genauer und aufrichtiger Briefschreiber. Er nahm sich Zeit dazu. Wenn ich mir vergegenwärtige, wie eingehend er sich, nach der Uraufführung meines Concerto da camera, ganz besonders mit diesem Stück befasst hat, dann muß ich sagen, daß sich kaum je ein Ausübender oder Musikwissenschaftler so bis in letzte Einzelheiten mit einem meiner Stücke auseinandergesetzt hat (mit Ausnahme von Frank Martin und Tscherepnin, die ebenfalls analysierend auf bestimmte Fragen und formale Probleme eingegangen waren). Eine ganze Reihe von Moes Briefen befassen sich ausschließlich mit diesem Werk. Es sind hochaufschlußreiche Analysen von letzter Exaktheit, ja Akribie, was die Form wie den musikalischen Gehalt angeht. Analysen, die eigentlich die Veröffentlichung erheischen, Musterbeispiele der geistigen Durchdringung und Vergegenwärtigung durch das Mittel der Sprache. So oft ich über Werke von Moeschinger geschrieben habe: Was analytische Blosslegung und Erklärung betrifft, habe ich nie seine Eigenschaften, seinen Willen zur Durchleuchtung gehabt, noch seine Ergebnisse erreicht. Ich konnte nur immer sein Einfühlungsvermögen und seine Kunst-Intelligenz bewundern. Andere ließen seinem Schaffen die ihm gebührenden Untersuchungen angedeihen: Zu denken ist an die zahlreichen Äußerungen von Hans Oesch und etwa die Würdigung eines einzelnen Werkes durch Willi Reich.

Von Werk zu Werk war Moeschinger konsequenter und eindeutiger, was nicht heißt, daß sie für einen weiten Hörerkreis aufnahmeleichter wurden. Wohl eher im Gegenteil. Die wenigen, die um die außerordentlichen Qualitäten dieses schöpferischen Menschen wußten, eines Menschen, der nicht ohne Qualen durch ein langes Leben ging, ließen ihm, auch wenn seine Musik in gewissem Sinne immer abstrakter wurde, immer erneut Aufträge zukommen, und so konnten die späten Sinfonien, die konzertanten Werke, konnte die Vokal- und die Kammermusik entstehen, die in den Sälen unserer Städte und an den Rundfunkanstalten geboten wurden. Bei den sinfonischen Werken vollzog sich gleicherweise die Wandlung von der Tonalität zu einer persönlich interpretierten Dodekaphonik, ausgehend etwa von den Purcell-Variationen für Streicher zu den fünf Sinfonien und zu den Stücken für großes Orchester, deren Titel schon die Eigenwilligkeit ihres Schöpfers beweisen. Sarcasmes nennt sich das eine, Ignis divinus ein anderes, mit dem Zusatz «Ballet en concert», Erratique ein weiteres oder On ne traverse pas la nuit. Seit dem Aufenthalt in Saas Fee hatte Moe begonnen, deutschen Titeln französische vorzuziehen. Die nahe Beziehung zum Ballett kam in dem Ballett auf ein Szenario von Werner Wolff Amor und Psyche zum Ausdruck, die Beziehung zum Dramatischen in der dramatischen Kantate Die kleine Meerjungfrau nach Andersen für Soli, Chor und Orchester. Nicht sehr umfangreich das rein vokale ¦uvre, mit einer Missa in honorem St. Theodali, den Goethe-Liedern, den Liedern für Mezzosopran. Um so reicher die Kammermusik mit sechs Streichquartetten, einem Quintett nach schweizerischen Volksliedern für Bläser, den Sonaten und Sonatinen für Klavier allein und mit einzelnen Instrumenten, den verschiedenen Toccaten, in denen das Element des Rhythmischen besonders wichtig wird. Immer neue instrumentale Verbindungen sind auf kammermusikalischem Gebiet zu verfolgen; nicht minder persönlich auch hier die Titel, etwa Implacable, ein Klavierstück, oder Huit soldats armes d¹instruments für vier Bläser und vier Streicher oder Saligia für Quintett mit Bläsern und Klavier. Das Concert en sextuor für Klavier und Streicher und das Consort for Strings, zwei wichtige Werke aus späterer Zeit, sprengen eigentlich den Rahmen des Kammermusikalischen und könnten ebensogut den konzertanten Arbeiten zugerechnet werden.

Bei den Uraufführungen der letztgenannten Werke war ich erneut mit Moe zusammengetroffen, und kurze Gespräche hatten sich bei diesen Anlässen ergeben. Eine Entrevue in Ascona im Hotel Tamaro, wo er lange Jahre lebte, zahlte zu den rarer werdenden Begegnungen. In Sitten, bei einem Tonkünstlerfest, trafen wir uns in besonderer Funktion. Von ihm wurde die Cellosonate gespielt, mit dem Komponisten am Klavier und August Wenzinger am Cello. Ich hatte die Seiten zu wenden. Seinerseits wendete er die Seiten bei meinen französischen Liedern, die von der Pariser Sopranistin Flore Wend gesungen wurden, von mir begleitet. Es existieren sogar Aufnahmen von dem seltsamen Komponisten-Hilfsdienst, doch sie sind aus der Ferne des Zuschauerraums aufgenommen und lassen die vier Artisten nur als ameisenhaft kleine Handelnde auf einer Bühne erkennen. Später hatten wir uns für die Besprechung eines formalen Problems zu treffen. Jeder berechnete eine annähernd gleich lange Fahrzeit mit der Eisenbahn: Moe kam über den Brünig, ich mit der Seetalbahn. Die Mitte fand sich in Alpnach-Stad. Als wir uns dort am Bahnhof sahen, daneben die Pilatusbahn abfahrbereit, schwankten wir einen Augenblick, ob wir nicht den Pilatus befahren sollten, der ihm wie mir unbekannt war. Wir rechneten aus, daß wir oben genau eine Viertelstunde Zeit hätten, ehe wir wieder talwärts fahren müßten, und ließen den schönen Plan fahren; wir hatten ja seriös zu debattieren, was sich auf dem Pilatus kaum machen ließ. Immer spärlicher, immer kürzer wurden im Lauf der Jahre die Begegnungen, und Moeschinger traf mit seinem Verstand und Witz das Schwarze, indem er sagte, die letzte Konsequenz unserer seltenen Treffen wäre das Aneindervorbeifahren im finstern Gotthardtunnel, jeder in einem Expreß, er vom Tessin kommend, ich dorthin fahrend: jeder für den andern unsichtbar.

aus: «Komponisten des 20. Jh. in der Paul Sacher Stiftung», Basel 1968